Ein Röhrchen

Bei näherer Betrachtung stehen der Paarung von Fliegen geradezu unbegreifliche Hürden im Wege. Das Fliegenweib muss ein Partnertier als männliches identifizieren, eine vorhergegangene Befruchtung kann der Paarung im Wege stehen, Alter und Erschöpfung verringern die Paarungsbereitschaft, und schließlich muss auch noch ein hoch differenzierter Verständigungsvorgang durchlaufen werden, bevor die beiderseitige Einsicht in den bevorstehenden Akt herbeigeführt ist. Für die allgegenwärtige Fruchtfliege ist dies bis in entlegene Einzelheiten hinein bekannt - für die gemeine Stubenfliege bleiben viele Fragen offen.

Ehe wir aber den wunderbaren Mechanismum aller erst beschriebenen Theile an dem Männchen näher kennen lernen, müßen wir zuvor das Geburtsglied, der weiblichen Fliege, oder das Legröhrchen betrachten. Ein geringer Druck, den man dem Leib der Fliege dieses Geschlechts zwischen zween Fingern gibt, ist auch hier hinreichend, dieses Theil augenblicklich sichtbar zu machen, und heraus zu treiben, da es zuvor in dem Leibe der Fliege […] verborgen war. Dieses Geschlechtszeichen des Weibchens […] ist eine lange Röhre, die aus sechs Theilen, oder Absäzen bestehet, welche sich, wie die Hülsen eines Seherohrs, in und auseinander schieben. Die Absätze 1. 3. 5. erscheinen bei dieser Vergrößerung wie Chagrinhaut; […] aber sieht man, daß sie mit sehr spizigen, gegen den Leib gerichteten Haaren versehen sind […]. Die andern drei Absäze […] sind hingegen ganz glat, und an verschiedenen Stellen der feinen Pergamenthaut, woraus sie bestehen, so durchsichtig, daß die Röhrchen und Gefäse durchscheinen. Auf der äusern Haut dieser Absäze laufen schmale hornbeinerne Stäbe, oder Schienen herab, die diesen weichen Theilen mit dem Ausstrecken des Röhrchens die Haltung geben, und vielleicht das meiste dabei thun. Auf der untern Seite […] sind sie bei dem zweiten und vierten Absaz einfach, und nur bei dem sechsten gedoppelt; auf der obern Seite aber […] fangen sie bei dem zweiten Absaz einfach an, theilen sich in solchen schon als eine Gabel, und laufen gedoppelt fort, biß ans Ende. Die Schienen der untern Seite laufen gleichsam in feinen Schnüren, die über sie hinweggezogen, oder geschnüret sind. Die Schienen der obern Seite, welche bei der Paarung, weil alsdenn das Legeröhrchen aufwärts gebogen ist, die innere wird, haben keine dergleichen Schnüre, wenigstens habe ich solche nicht entdecken können. Sie würden auch überflüßig seyn, da die gedoppelten Schienen bei dem Biegen des Legeröhrchens an der concaven Seite zu stehen kommen, und also nur die weichen Absäze herausdrucken und tragen dürfen; da hingegen die untere alsdenn ausen, oder an der convexen Seite zu liegen kommende Schienen die weiche Haut erheben und halten müßen, damit die Röhren der Absäze nicht zusammen fallen, und also der Eingang in den Eierstock offen bleibe. An der obern Seite des dritten und fünften Absazes zeigen sich einige große, aus kleinern zusammengesezte braune Wärzchen, die zwischen andern einfachen dergleichen stehen, und sämtlich mit steifen, gegen den Leib stehenden Haaren, oder Borsten besezet sind. Auf dem sechsten Absaz werden dergleichen noch viere gezehlet. Zwischen dem obern dieser leztern, und dem darunter stehenden, mit Haaren versehenen, hornartigen Schüpchen ist das eigentliche Geburtsglied der Fliege angebracht. Ist ist dieses aber […] auch bei den stärksten Vergrößerungen so wenig sichtbar, daß ich es lange vergeblich gesucht hate, biß ich endlich auf den Einfall gekommen bin, zu versuchen, ob sich nicht die Eier aus dem Leibe der Fliege durch das Legeröhrchen treiben und zum Ausgange bringen lassen. Es gelung mir dieses schon mit dem dritten Weibchen, das ich meiner Wißbegierde aufopferte, da ich die Eier aus dem Leibe mit einer Nadel in das Legröhrchen drückte, und indem ich mit sanftem Drucken von einem Absaz zum andern fortfuhr, solche […] in Gegenart einiger Personen, die diesem Versuch nicht ohne Bewunderung beiwohnten, hervorkommen sah. Zu gleicher Zeit zeiten sich auch die […] verborgenen Haacken des Schüpchens […] und zwischen den beiden unern länglichten Wärzchen der After, welcher zuvor von der Klappe […] bedeckt war. Ich weiß nicht, was fü rein blinder Zufall den Herrn Ledermüller verleitet hat, dieses Röhrchen für das männliche Glied der Fliege, zwar nur zerquetscht, abzuzeichnen und zu beschreiben. Ich gestehe aber, daß mich derselbe nach den Begriffen, die ich bißher von seinen Einsichten in die Naturwissenschaft gehabt habe, beinahe damit irre gemacht hätte; zumal da ich gelesen, daß er sogar Samenthierchen zu sehen geglaubt habe, wenn ich nicht von Schwammerdam, Backer und Herrn von Reaumur, bereits vor meinen eigenen Untersuchungen eines andern belehret worden wäre, und auch bei dem leztern nicht gefunden hätte, daß schon Aristoteles vor 2000. Jahren dieses Röhrchen als das weibliche Glied der Fliege beschrieben habe. […] Indeßen ist der so einsichtsvolle Herr von Reaumur auf eine andere Art von der Natur gleichsam hintergangen worden, da er von der Paarung der Fliegen geschloßen, daß auch hier der Urheber der so kleinen Geschöpfe weise, daß es ihm gefallen habe, die Veränderungen bei dem Bau der Dinge zu vervielfältigen; welches zwar überhaupt auch von den zu dieser Handlung vorkommenden Veranstaltungen, aber keineswegs wie doch Hr. von Reaumur der Meinung ist, von der Handlung selbst gesagt werden kan. Denn ob wir schon bei solcher die Ausnahm von der Regel sehen, daß das weibliche Zeugungsglied […] in den Leib des Männchens dringet; so geschiehet doch solches nur zu dem Ende, damit die Vermischung beider Geschlechter, nach der allgemeinen Regel, im verborgenen vollzogen werden könne. Nach eben dieser Regel ist auch das Männchen bei dem Fortpflanzungsgeschäfte der angreiffende Theil. Daher flieget es auf den Rücken des Weibchens, und drucket den Kopf deßelben mit seinem Rüßel etwas unterwärts. Nach diesem ersten Versuche der Einwilligung des Weibchens zu seinem Vorhaben wagt es sodann den zweiten; indem es den lezten Ring seines Leibes unter denienigen, der bei dem Weibchen der lezte ist, zu bringen bemühet ist. Ist nun etwan das Weibchen schon befruchtet, oder sonst nicht willens, den Antrag des Männchens anzunehmen; so sizet es stille und unbeweglich, welches genug ist, dem Männchen zu erkennen zu geben, daß es sein Glück weiter suchen müße. Ist aber das Weibchen zur Aufnahm deßelben geneigt; so treibt es bei dem ersten Versuche des Männchens sein Legröhrchen etwas heraus, deßen sich denn dieses bei dem zweiten augenblicklich bemeistert, und mit der Schaufel […] den Leib des Weibchens von oben ergreift, sodann aber das dadurch mehr hervorkommende Legröhrchen […] den beiden Armen […] übergibt, damit durch solche ein Absaz derselben nach dem andern in seinen Leib gedrucket werde. Solchergestalt komt nun das ganze Legröhrchen durch die dreiseitigen Oefnungen […] in den Leib des Männchens, wobei es denn wie ein Sprenkel aufwärts gebogen wird, und solchergestalt das Geburtsglied […] gerade auf die in der dreiseitigen Oefnung […] erscheinende männliche Ruhte trift, und der Eingang derselben in ienes geschieht. Was nun ferner in dem Leibe des Männchens vorgeht, gehöret unter die Geheimniße, welche sich die Natur allein zu wißen vorbehalten hat.

Wilhelm Friedrich von Gleichen-Russwurm: Geschichte der gemeinen Stubenfliege. Von dem Verfaßer des Neuesten aus dem Reiche der Pflanzen. Hgg. v. Johann Christoph Keller. [Nürnberg] 1764, S. 24-25

Ballodora dimorpha, Zarskoe Selo.