Das Auge

Das Instrument hatte es in sich. Sieben Linsen mit maximal vierhundertfacher Vergrößerung, ein Modulsystem zum Aufbau des Mikroskops am gleichen Stativ, und, wie die Mikroskopiker hervorheben, zum erstenmal ein Schlitten mit Schwalbenschwanzführung. Wilhelm Friedrich Freiherr von Gleichen genannt Rußworm oder Rußwurm hatte sich seine Instrumente von dem Nürnberger Martin Frobenius Ledermüller anfertigen und liefern lassen, einer in seiner Zeit unbestrittenen Koryphäe dieser Technik. Rußwurm hatte sich bereits 1756 vom Militärdienst zurückgezogen und betrieb seither mit dem von ihm erfundenen Universalmikroskop auf dem mütterlichen Schloss Greifenstein eingehende Studien vor allem zu Spermatozoen und den Fortpflanzungsorganen von Pflanzen. Seine “Abhandlung über die Saamen und Infusionsthierchen” von 1778 regte noch Goethe in Weimar zu eigenen Untersuchungen an.

 Das Auge, das vornehmste unter den zum Unterrichte der Seele bestimten Werkzeugen, siehet, nach dem Ausspruche des Weißesten unter den Menschen, sich niemalen genug, und nimmermehr satt. Konte er dieses mit voller Wahrheit sagen von dem Auge, welches sich selbst gelassen und nach Maasgabe seines Baues nur die scheinbaren Größen und die Flächen an den Cörpern zu erkennen im Stande war: mit wie viel größerem Rechte und mit lebendiger Ueberzeugung würde er es haben sagen müßen, wenn in seinem Weltalter diejenigen Hülfsmittel bekant gewesen wären, welche heut zu Tage dem Auge gegeben werden können, um immer genauer und schärfer zu sehen. […]  Daß inzwischen die Saamenthiere mit den Infusionsthieren und dergleichen heut zu Tage beobachteten Dingen in großer Verwandschaft und Annäherung stehen, und mit ihnen unter einerlei Reihe der Geschöpfe gehören, wird demjenigen leicht in die Augen fallen, der Beobachtungen darüber angestellet hat. Jene, wie diese, befinden sich in einem flüßigen Wesen, welches in einem beschloßenen Orte, unter gemäsigter Wärme, in eine innerliche Bewegung oder Aufschluß und Gährung, oder wie man es nennen will, seiner enthaltenen Theile gesezet worden ist. […] Solte es denn wohl mit den Saamenthiergen viel eine andere Beschaffenheit haben, als mit den Infusionsthiergen. Da die Natur im kleinen sehr einförmig zu Werke gehet, solten danicht eben solche Handlungen vorgehen, und alsdenn, wenn es ja seyn soll, eben so einfache Absichten bei ihrer Bestimmung statt finden können, und würden also die Saamenthiere nicht, wenn sie in den Orten ihres Aufenthaltes zu einem Reize gedienet hätten, den jenigen Entzweck völlig und überflüßig erfüllet haben, der mit ihrem Maaße der Vollkommenheit und mit ihrem Daseyn in einem Verhältniß stünde, und demselben gemäß wäre.

Vorrede von Casimir Christoph Schmiedel zu Wilhelm Friederich Freiherrn von Gleichen, genannt Rußworm: Mikroskopische Untersuchungen und Beobachtungen der geheimen Zeugungstheile der Pflanzen in ihren Blüten, und der in denselben befindlichen Insekten; nebst einigen Versuchen über dem Keim, und einem Anhang vermischter Beobachtungen, beschrieben und mit Farben nach der Natur vorgestellt. Nürnberg 1790.